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Marke und Typografie

Interview mit Peter Glassen

Peter Glassen / 2021-07-18

Jeder kennt den markanten Schriftzug von Nivea oder die geschwungene Schreibschrift von Coca Cola. Markennamen übermitteln nicht nur Inhalt, sondern auch ihre Form prägt sich dem Betrachter bewusst oder unbewusst ein. Zwei, die das Handwerk der Typografie bis ins Detail beherrschen, sind die Grafiker und Schriftgestalter Michael Mischler und Nik Thoenen von der Type Foundry Binnenland Bern/Wien. Gemeinsam mit ihnen spreche ich über den Charakter von Schrift und deren Charakter. Marke und Schrift sind eigentlich kaum voneinander zu trennen. Dennoch gibt es Marken, bei denen ich mich eher an das Bild erinnere als an die Schrift, so z.B. beim angebissenen Apfel von Apple, beim spiralartigen Herz vom Lusso Glace oder bei den drei markanten Schlüsseln der UBS. Oft aber sind es die Schriftzüge, die im Kopf bleiben, man denke an das kräftige Nivea, das geschwungene Milka oder das konstruierte ABB, die ich mit schnellem Strich auf Papier skizzieren könnte. Mit anderen Worten: Nicht nur Bilder prägen sich ein, sondern auch die Form von Schrift. Habt Ihr Wortmarken, bei denen Euch die Schrift besonders gut gefällt? Und wenn ja, weshalb?

Michael Mischler    Du hast zwei wunderbare Beispiele genannt! Nivea, gesetzt in der Futura, vielleicht für diesen Zweck leicht abgeändert und der schwungvolle Coca-Cola-Schriftzug von Frank M. Robinson. In unserer Jugend war der Coca-Cola-Schriftzug sehr modern, das Unternehmen erfrischte mit seiner Werbung und seinem Markenauftritt und erschien uns am Puls der Zeit. Aber ist das im Zeitalter von Red Bull und Quinoa für junge Leute heute noch so? Was für uns Coolness bedeutete, wird heute mit einer beschwingten Post-Hippie-Buntheit vermittelt. Dennoch ist es immer möglich, dass eine alte Cola-Dose mit ihrem schmucken Design als Fundstück aus der Brockenstube zur Inspirationsquelle werden kann. Als Typografen sind wir immer auf der Suche nach Inspirationen. So ist es naheliegend, dass auch bekannte und weniger bekannte Markennamen mit ihren Schriftzügen dazu anregen, die Alphabete zu vervollständigen. Es gibt einige Beispiele an Schriften, welche nur wenige Buchstaben in Form eines Schriftzuges als Vorlage hatten: so z.B. die Schriften Brauer von Philippe Desarzens und Elektrosmog, die vom Schriftzug der Brauerei Hürlimann abgeleitet wurden, oder die Tablettenschrift von Reala, die vom PEZ-Schriftzug ausging. 

Nik Thoenen     Ein weiterer interessanter Aspekt ist, dass bei vielen Marken-Schriftzügen auf bestehende Schriften zurückgegriffen wurde, die oft zu einer passenden Erscheinung umgezeichnet wurden. Das erweitert den Formenfundus für das Typedesign. Wir befinden uns in einem Zeitalter, wo die Dichte an zugänglichen Schriften unglaublich hoch ist und sich viele Schrifttypen oft nur in Details unterscheiden. Da werden formale Anregungen hilfreich, die sich später entscheidend auf die Wiedererkennbarkeit einer neuen Schrift auswirken.

Michael Mischler    Aber eine Frage zurück an Dich, Peter: Du bist mit dem geschriebenen Wort sehr vertraut. Wenn du schreibst oder liest, verlierst du da das eine oder andere Mal einen Gedanken an die verwendete Schrift? Wir als Typedesigner können ja kaum einen Text lesen, ohne uns Gedanken über Zeichenabstände, die Formensprache oder die Lesbarkeit der verwendeten Schrift zu machen – sozusagen als «deformation professionelle».

Peter Glassen    Und ob, ich kenne die «deformation professionelle» nur zu gut! Dazu folgende Anekdote, die zeigt, wie stark mein Auge durch meine grafische Berufsausbildung «deformiert» wurde: Vor vielen Jahren verabredete ich mich mit einer Freundin in Berlin. Ich schlug ihr vor, dass wir uns im Restaurant «Bellevue» in der Nähe der Oper treffen sollten. Pünktlich sass ich am verabredeten Ort. Wer nicht kam, war sie. Nach einer Weile sah ich sie draussen suchend auf der Strasse umherlaufen. Ich ging hinaus und fragte, weshalb sie nicht ins «Bellevue» hineinkommt. Und sie antwortete: «Ich kann Dich nicht finden, wenn Du im Restaurant ‹Dressler› sitzt.» Was war geschehen? Ich sass tatsächlich im Restaurant «Dressler» und so hiess es seit Jahren. Der Schriftzug an der Fassade war jedoch in einer Schriftart gesetzt, die der Schrift «Bellevue» ähnlich ist. Ein dekorativer Font, eine Displayschrift, die sich an die Formensprache des «Art déco» anlehnt. Sie passte damit zur gesamten Einrichtung des Restaurants im Stil eines typischen Pariser Bistros der 20er Jahre. Und da ich die Schrift aus der Reklameherstellung gut kannte, war es zu dieser Überlagerung in meinem Kopf gekommen – statt des Restaurantnamens hatte sich mir der Name der Schrift eingeprägt.

Nik Thoenen    Über solche Anekdoten können wohl nur Grafiker lachen, oder? Aber hast Du als Semiotiker eine Erklärung für dieses Phänomen?

Peter Glassen    Die Semiotik hat eine ganz einfache Erklärung dafür: Wir ordnen Zeichen in unserem Alltag ganz bestimmten Bedeutungen zu. Oft ist mit einem Zeichen nicht nur eine, sondern es sind mehrere Bedeutungen damit verbunden. Der Fachbegriff lautet «Semiose» – eine Verkettung von Bedeutungsassoziationen, die kollektiv oder individuell geprägt sind. Wenn mein Interesse an Typografie grösser ist als das an Namen von Restaurants, dann kann es zu solchen Verschiebungen in der Bedeutungshierarchie kommen. In der Psychologie lässt sich ein ähnliches Phänomen heranziehen. Der Stroop-Effekt macht deutlich, dass erlernte Tätigkeiten nahezu automatisch ablaufen, während ungewohnte Tätigkeiten eine grössere Aufmerksamkeit erfordern. Im Experiment müssen die Teilnehmer die Namen von Farben laut vorlesen. Ist der Name in der jeweiligen Farbe geschrieben – z.B. «rot» in roter Farbe –, fällt das Vorlesen leicht. Haben die Farbworte jedoch eine ganz andere Farbe – z.B. «rot» in grüner Farbe –, fällt es den Probanden schwer, diese schnell auszusprechen. Schrift, Formen und Farben sind in unserem Bewusstsein mit ganz bestimmten Bedeutungen verknüpft. Werden diese erlernten Verknüpfungen durch widersprüchliche Informationen gestört, kommt es zu einer Interferenz. Wir erleben sozusagen, wie unser Gehirn stolpert. In Bezug auf Marken lässt sich dieser Effekt bei den «Reverse Logos» sehr gut nachvollziehen. Von ihnen gibt es zahlreiche Beispiele im Internet. Sehr bekannte Markennamen wurden im Aussehen ihrer Konkurrenten gestaltet. Wir sehen die Logos und nehmen erst auf den zweiten Blick wahr, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. So stark sind sie in unserem Kopf mit ganz bestimmten Bedeutungen besetzt. Doch wieder zurück zum Thema. Schriften haben Charakter. Sie können leise, zurückhaltend, laut, elegant, modern, altmodisch, verspielt usw. sein. Die Schrift spricht zu uns, egal ob als Handschrift oder konstruierter Font. Wenn ihr ein Typeface für einen Kunden gestaltet, wie lasst Ihr Euch vom Charakter der Marke beeinflussen? Wie macht Ihr in einer Wortmarke oder einer Hausschrift Identität sichtbar?

Nik Thoenen   Wir hatten bisher zwei verschiedene Herangehensweisen zu sogenannten Custom- Fonts, den Hausschriften. Es gab einerseits Kunden, die angefragt haben, aufgrund einer bereits bestehenden Schrift einen Corporate- Identity-Font zu adaptieren. Andererseits entwarfen wir Schriften unaufgefordert für Kunden, für die wir an Stelle eines Logotype einen Custom-Font entwickelten.

Michael Mischler    Diese CI-Fonts betrafen in beiden Fällen Museen, einmal das «Palais de Tokyo» in Paris und einmal das «Fonds Régional d’Art Contemporain Lorraine» in Metz. Für den «FRAC Lorraine» haben wir einen simplen Grid-Font entwickelt. Der «FRAC» hatte bis 2003 weder eigene Räumlichkeiten für Ausstellungen noch ein Archiv für seine Kunstankäufe. Diese Fonds gehen in ihrer Gründung zurück auf den französischen Kulturminister Jack Lang, der damit die Kunst und ihre Präsenz in den Landkreisen stärker fördern wollte. Die Landkreise stellen jeweils die Gebäude zur Verfügung.

Nik Thoenen    In Metz ist das ein historischer Bau im Stadtzentrum mit teilweise aus dem 15. Jahrhundert stammenden Gebäudetrakten. Wir haben eine Schrift entworfen, die opponierend zur Architektur steht. Wir wollten dem charmant verwinkelten Bau eine Schrift mit möglichst geringer Komplexität entgegenstellen. Jedes Zeichen bewegt sich auf einem Grid von sieben mal sieben möglichen Punkten, die nur mit Geraden verbunden sind. Im Zeichensatz sind die Kleinbuchstaben mit unterschiedlichen Pfeilen zur Wegleitung belegt. Diese Wechselwirkung zwischen Architektur und Schrift kommuniziert eine klare visuelle Haltung und hat einen starken Wiedererkennungseffekt. Für das «Palais de Tokyo» haben wir eine ähnliche Strategie gewählt. Das für den Umbau beauftragte Architekturbüro Lacaton Vassal nahm im Inneren des Gebäudes einen höchst radikalen Eingriff in die vorhandenevorhandene Baustruktur vor: Sie höhlten die Ausstellungsräume komplett aus und beliessen sie in ihrer Rohheit versehen mit der nötigsten Ausstattung. Ein umgestülpter Effekt, die Hülle blieb in ihrer Form von 1937 – das Innere erhielt eine beeindruckende zeitgenössische Ausstrahlung. Analog zu dieser Strategie haben wir uns bei Helvetica bedient, um strategisch ähnlich zu intervenieren. Wir haben die relativ bekannte Helvetica in der Formensprache vereinfacht und durch minimale Eingriffe aktualisiert. Unsere Absicht war äusserst zweckorientiert: Der architektonische Eingriff in das «Palais de Tokyo» sollte auch im typografischen Eingriff in die Helvetica sichtbar werden.

Michael Mischler    Bei anderen Aufträgen bezogen sich die Anfragen auf bereits bestehende Schriften aus unserer Bibliothek. Bei MINI war es die Schrift Catalog, die die Agentur KKLD in Berlin ausgewählt hatte. Natürlich haben wir bei der Überarbeitung bedürfnisorientierte Eingriffe vorgenommen, aber in ihrer Erscheinung ist die MINI-Schrift der Catalog treu geblieben. Das war von den Auftraggebern auch entsprechend definiert. Die Marktanalysen zeigten, dass im Automotive-Bereich keine visuell ähnlichen Schriften zu finden sind und damit ein Alleinstellungsmerkmal gegeben war. Wir sahen zu Beginn wenig Gemeinsamkeiten zwischen der Marke MINI und der Schrift Catalog, aber letztlich wurde deutlich, wie sich über die Entwicklungszeit ein Branding eingeschrieben hat: Durch die Überarbeitung des MINI-Logos hin zu einem reduzierten scharfkantigen Vektorlogo entstand plötzlich eine Verbindung zur Schrift Catalog und ihrer systematischen Einfachheit, was sie sowohl für Anwendungen als Headline-Schrift als auch als Fliesstextschrift auszeichnet.

Nik Thoenen    Der jüngste Auftrag für einen Custom-Font kam vom österreichischen Motorrad und Sportwagenhersteller KTM. Der Wunsch des Kunden und der zuständigen Design-Agentur KISKA war, die Schrift Blender speziell für die Displays der Motorräder zu optimieren. Der Fokus lag ganz klar auf einer besseren Lesbarkeit bei höheren Geschwindigkeiten und dem damit verbundenen Sicherheitsaspekt. Die Vibrationen des Motorrads und die überschaubare Grösse des Displays bedingen eine klare Screen-Darstellung. Basierend auf Parametern wie der Pixeltreue wurde die Schrift Blender vollumfänglich neu gezeichnet. Entstanden ist ein eigenständiger Display-Font mit einer markanten Zahlenreihe, die zusätzlich für die Anzeige der Geschwindigkeit formal adaptiert wurde. Der Charakter von Schrift beschäftigt uns also in vielfältigen Anwendungsgebieten.
Wir sind hauptsächlich im europäischen Sprachraum tätigt. Als Semiotiker beschäftigst du dich vor allem mit der interkulturellen Bedeutung von Zeichen. Schon lange wollten wir wissen, was es mit dem Coca- Cola-Schriftzug in China auf sich hat. Stimmt es wirklich, dass er übersetzt «Beiss in die wächserne Kaulquappe!» heisst?

Peter Glassen    Die Geschichte ist wahr und ein weiteres Beispiel, wie unterschiedlich die Bedeutung von Zeichen in anderen Kulturen ist. Coca Cola kam in den 1920er Jahren in China auf den Markt. Sehr schnell wurde klar, dass der markante Schriftzug eine kulturelle Anpassung braucht. Denn das rein phonetisch ausgesprochene «Co-Ca Co-La» bedeutet im Chinesischen je nach Dialekt entweder «Beiss in die wächserne Kaulquappe!» oder «Das mit Wachs gestopfte weibliche Pferd». Für einen Limonadenhersteller sicher nicht die beste semantische Verknüpfung. Also übertrug man die Laute in chinesische Schriftzeichen mit einer ähnlichen Aussprache, aber positiver Bedeutung:

 k’o = dürfen / können

 k’ou = Mund
 k’o = dürfen / können
 leˆ = Freude bereiten

Diese Übertragung ist sowohl in der Form als auch im Inhalt gut gewählt. Die geschweifte Typografie erinnert in Farbe und Form an den Originalschriftzug. Und die chinesische Kalligrafie verheisst «köstlich schmeckt und Freude bereitet». Erst vor Kurzem bestätigte mir eine Kollegin aus China, wie raffiniert diese kulturelle Anpassung ist, auch wenn sie selbst die Werbebotschaft nicht teilt.


Peter Glassen ist Markenberater und Semiotiker. Er berät und begleitet Unternehmen und Organisationen bei der strategischen Entwicklung ihrer Marken. Als Teil eines internationalen Netzwerks von Semiotikern ist er auf die Analyse und Synthese (inter-)kultureller Codes und Zeichen spezialisiert. Neben seiner Beratertätigkeit hält er Vorträge und lehrt an Hochschulen in der Schweiz und in Deutschland. markenbildung. ch